Härtefallscheidung und Palliativmedizin (OLG Stuttgart) 5/5

Ein Härtefallgrund im Sinne von § 1565 Abs. 2 BGB ist dann gegeben, wenn bei Kenntnis der schweren Erkrankung eines Ehepartners eine neue Beziehung aufgenommen wird. Dies stellt Umstände dar, die im Hinblick auf die schwindende Lebenserwartung als besonders verletzend zu bezeichnen sind (OLG Stuttgart, Beschluss vom 17.09.2015, AZ: 11 UF 76/15).


Sachverhalt:

Die Beteiligten haben am 22.05.1987 die Ehe miteinander geschlossen. Die Antragstellerin ist erwerbsunfähig und bezieht Erwerbsunfähigkeitsrente. Im Jahre 2009 ist sie an einem bösartigen Leberkarzinom erkrankt. Seit diesem Zeitpunkt ist sie regelmäßig in ärztlicher Behandlung, wobei keine Heilungschancen prognostiziert werden. Die Lebenserwartung ist unsicher. Spätestens im September 2014 hat der Ehemann eine andere Frau kennengelernt, mit welcher er mittlerweile eine Beziehung führt.

Das Familiengericht hat wegen der schweren Erkrankung einen Härtefall bejaht. Hiergegen richtet sich die Beschwerde. Die Beschwerde hatte bezüglich der Härtefallgründe keinen Erfolg.

Entscheidung:

Der Senat führt zur Begründung seiner Entscheidung an, dass sich die Umstände des Treuebruchs als besonders verletzend darstellen. Die Antragstellerin ist schwer krank. Es ist derzeit nicht abzuschätzen, welche Lebenserwartung sie noch hat. Heilungschancen sind nicht prognostiziert. Nachdem die Ehegatten bereits seit einigen Jahren diese Zeit der Erkrankung durchlebt haben, hat der Antragsgegner in Kenntnis der schweren Erkrankung seiner Ehefrau eine neue Partnerschaft aufgenommen und ist mit der neuen Partnerin auch in der Öffentlichkeit als Paar aufgetreten. Die Antragstellerin hat auch von Dritten erst erfahren, dass sich der Antragsgegner einer anderen Frau zugewandt hat.

Auch unter Berücksichtigung der danach vorzunehmenden restriktiven Auslegung des § 1565 Abs. 2 BGB geht das Gericht, auch bei der psychischen Belastung des Ehemannes seit 2009 von einem Härtegrund im Sinne des § 1565 Abs. 2 BGB aus. Angesichts der schweren Erkrankung der Antragstellerin, bei welcher Heilungschancen verneint werden und bei welcher nur noch Palliativmedizin zur Anwendung kommt, ist von einer objektiv vorhandenen besonderen Verletzlichkeit und Hilflosigkeit auszugehen. Das Auftreten des Antragsgegners mit einer anderen Frau als Paar in der Öffentlichkeit hat die Antragstellerin als besonders belastend empfunden. Aufgrund ihrer besonderen gesundheitlichen Situation besteht nach OLG Stuttgart zwischen ihr und dem Antragsgegner ein erhebliches Ungleichgewicht. Während der Antragsgegner ein neues Leben mit seiner Freundin plant, besteht für die Antragstellerin keine Perspektive auf ein Weiterleben. Sie dürfte sich - für einen objektiven Dritten nachvollziehbar - in dieser Lebenssituation, in welcher sie besonders auf die eheliche Solidarität angewiesen ist, von ihrem langjährigen Ehemann besonders verlassen und hilflos gefühlt haben und auch in einem größeren Maße verletzt sein, als es ohne diese schwere Erkrankung der Fall wäre. Auch wenn von einer erheblichen psychischen Belastung des Antragsgegners wegen des langjährigen schweren Krankheitsverlaufs auszugehen ist, so dürfte ihm diese besondere hilfslose Situation doch bewusst gewesen sein.

Praxishinweis:

Treuebruch und das Auftreten mit einem neuen Partner in der Öffentlichkeit begründet im Regelfall keinen Härtegrund im Sinne von § 1565 Abs. 2 BGB. Erst wenn besondere Begleitumstände hinzutreten, die Art und Weise des Ehebruchs besonders verletzend und erniedrigend ist, kann ein Härtegrund vorliegen (Münchener Kommentar/Ey, § 1365 Rdnr. 110; BGH FamRZ 1981, 127; OLG Düsseldorf FamRZ 2000, 286; OLG Stuttgart FamRZ 2002, 1342; OLG München FamRZ 2011, 218; OLG Rostock NJW 2006, 3648). Unter Berücksichtigung der vorzunehmenden restriktiven Auslegung des § 1565 Abs. 2 BGB wird die Zuwendung des Ehemannes zu einer neuen Partnerin im Hinblick auf die schwere Erkrankung als Härtefallgrund angesehen. Dabei wurde die persönliche Situation des Ehemannes, der immerhin mehr als 5 Jahre mit der Erkrankung der Ehefrau durchlebt hat, nicht als psychische Belastung angesehen. Es wurde auf ein Ungleichgewicht zwischen der totkranken Ehefrau und dem Ehemann abgestellt, der eine Lebensperspektive hat. Gleichwohl hat das Oberlandesgericht die belastende psychische Situation für Angehörige bei einer Palliativerkrankung nicht entsprechend gewürdigt. Das Oberlandesgericht hat hier lediglich auf die hilflose Situation der Ehefrau abgestellt und die außerordentliche psychische Belastung des Ehemannes, der über Jahre hinweg die Krankheit mitgetragen hat, nicht berücksichtigt.

Angesichts dieser Umstände dürfte die Entscheidung mehr als problematisch sein. Es bleibt abzuwarten, ob generell bei schweren Erkrankungen und einem Treuebruch die bisher restriktive Auslegung des § 1565 Abs. 2 BGB umgekehrt wird. Das Gericht verlangt immerhin schwerwiegende Gründe, die es der Antragstellerin bei objektiver Betrachtung nicht ermöglichen, weiterhin an die Ehe gebunden zu sein. Dies ist angesichts der schweren Erkrankung problematisch. Die Erkrankung ist für beide Ehepartner gleichermaßen belastend, so dass es fragwürdig ist, wenn auf ein Ungleichgewicht zwischen Lebensprognose und Zukunft des Ehemannes abgestellt wird.

Dr. Werner Nickl, Fachanwalt für Familienrecht, Eislingen

geschrieben am: 28.11.2015 - 13:39:06 von: blaurani in der Kategorie vorzeitige Scheidung
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